Der Zertifizierungs-Wahnsinn

Florian Mai / Foto: © Tatiana Henriquez - www.henkwiet.com
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Wir sind zertifiziert! Zahlreiche Unternehmen besitzen ein Qualitäts­managementsystem und weisen dieses durch ein Zertifikat nach. Dabei rückt das Qualitätsmanagement immer mehr in den Hinter­grund – im Fokus steht nur noch ein Blatt Papier. Zum Sinn und Unsinn in der deutschen Zertifizierungslandschaft sprachen wir mit Florian Mai, Dozent der Akademie für den Mittelstand.

Herr Mai, sagt ein Zertifikat etwas über die Qualität eines Unter­nehmens aus?
Nicht unbedingt. Tatsächlich bestätigt ein Zer­ti­fikat nur, dass das zertifizierte Unternehmen in der Lage war, Nachweise für die Anforderungen einer Norm vorzulegen. Das muss nicht mit einer Qualität des Unternehmens verbunden sein. Beispielsweise verbinden zahlreiche Personen mit der ISO 14001 – Anforderungen an Umweltmanagementsysteme, ein nachhaltiges, „grünes“ Unternehmen, das sich für Umwelt­schutz einsetzt. Doch damit hat das nichts zu tun. Auch ein Braunkohlebergwerk kann nach ISO 14001 zertifiziert sein, ohne einem der genannten Adjektive nachzukommen. Ein Zertifikat ist nur ein Hinweis auf Normkonformität, nicht zwingend ein Hinweis auf Qualität.

Wozu brauchen wir dann die Zertifizierung?
Prinzipiell kann ein Unternehmen vier Formen wählen, das eigene Qualitätsmanagementsystem zu kommunizieren: Selbstbestätigung, extern bestätigte Selbstbestätigung, Verifizierung durch Externe, Zertifizierung. Im Gegensatz zu den anderen drei Optionen bietet nur die Zertifizierung eine Garantie für Unabhängigkeit und Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Unternehmen. Außerdem fordern im B2B-Bereich Kunden immer häufiger einen offiziellen Nachweis für ein Qualitätsmanagementsystem, bspw. in der Automobil-, Luft­fahrt- und Sicherheitsbranche. Zertifizierer müssen einen strikten und staatlich regulierten Prozess durchlaufen, um überhaupt Zertifizierungen durchführen zu dürfen. Das Zei­chen für eine solche Zertifizierung/einen solchen Zertifi­zie­rer, ist das DAkks-Logo. Die DAkks ist die Deutsche Akkredi­tie­rungs­stelle und für die Zertifizierung (Akkreditierung in diesem Kontext) von Zertifizierern zuständig. Sie prüft u.a. die Kompetenzen, die finanzielle Situation und beschränkt den Markt für Zertifizierer. Damit sind die Markteintrittsbarrieren sehr hoch und es kann vermieden werden, dass irgendwelche Scharlatane am Markt agieren.

Sie selbst sind in der Normung tätig. Gehört der Bereich der Zertifizierung auch dazu?
Definitiv. Ich bin DIN-Mitglied und Vorsitzender bei ISO im Komitee ISO/TC232 für Lerndienstleistungen und Bildung. Bei einem Normungsprozess sollten alle Norm­an­wender einbezogen werden, daher besteht bspw. unser Komi­tee aus Vertretern der staatlichen Bildung, Akademien, Trainern, Coaches, Zertifizierern, der Forschung und dem Bund. Durch diese verschiedenen Parteien können wir sicherstellen, dass alle Interessen gleichermaßen vertreten werden. Wichtig ist jedoch immer folgende Unterscheidung: Normung und Zertifizierung sind getrennt voneinander. Zertifizierer sind Normanwender wie jedes andere Unternehmen auch.

Welche Projekte begleiten Sie aktuell bei DIN?
Florian Mai: Wir normen prinzipiell Lerndienstleistungen und Bildung. Das bedeutet, dass wir bspw. Leitfäden für die optimale Erbringung von Lerndienstleistungen (Trainings, Lehre) bereitstellen. Bei weiterem Interesse empfehle ich hier unbedingt den Besuch unserer DIN-Website Bildungs­dienst­leis­tun­gen oder mein neu erscheinendes Buch über den Springer-Verlag.

Aktuell haben wir zusammen mit der Akademie für den Mittelstand (Hans-Josef Helf) und dem IBE Institut für Bega­bung und Entwicklung (Prof. Dr. Rolf Koerber) eine DIN-Norm für die Anforderungen an Kompetenzen von Lernbegleitern geschrieben. Die auf der PAS 1064 basierende Norm ist damit ideal für Dozenten, Trainer, Coaches und Berater geeignet, die durch ihre nachweisbaren Kompetenzen erfolgreicher am Markt agieren möchten.

Also ein Leitfaden für Trainer?
Richtig, und für alle anderen, die lehren oder weiterbilden. Diese Norm wird einen wichtigen nächsten Schritt für den Bildungsmarkt darstellen. Zukünftig werden bspw. Unternehmen, Verbände, Kam­mern oder Bundes­minis­terien auf diese DIN-Norm zurückgreifen, um die Kompe­tenzen ihrer Trainer und Berater besser einschätzen zu können. Die Akademie für den Mittel­stand entwickelt analog hierzu gerade ein entsprechendes Aus­bil­dungs- und Prüfungs­kon­zept.

Gibt es in diesem Markt keine Normen oder gesetzliche Richtlinien?
Leider nicht. Der Bildungsmarkt wird aktuell ge­flutet von diversen Trainern, Coaches und Beratern. Es gibt keinerlei Kontrollinstrument, ob Personen auch tatsächlich notwendige Kompetenzen mitbringen oder Scharlatane sind. Dies erschwert es dem Mittelstand zunehmend, kompetente und bezahlbare Bildungsdienstleistungen zu beanspruchen. Daher empfehle ich einem mittelständischen Unternehmen, auf unsere Normen zurückzugreifen, um Trainer und Berater entsprechend einschätzen und auswählen zu können. In diesem Zusammenhang sehe ich ein Zertifikat beinahe schon als Mindestanforderung an. Wie sonst könnte ein unabhängiger und seriöser Beweis erbracht werden, ohne Lehrgeld zu bezahlen?

Florian Mai
Qualitätsmanagement
in der Bildungsbranche
Ein Leitfaden für Bildungs­ein­richtungen und Lerndienstleister
eBook ISBN 978-3-658-27004-9
Softcover ISBN 978-3-658-27003-2

springer.com/shop

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