Ein Mann und ein Mädchen
In „Alice“, der Robert Wilson-Adaption des bekannten Kinderbuchklassikers, reflektieren Regisseurin Mina Salehpour und ihr Ensemble im Dresdner Schauspielhaus über das seltsame Verhältnis des Autors zu seiner minderjährigen Muse.
Dass ausgerechnet „Alice“ im Schauspielhaus die erste Premiere nach dem Wellenbrecher-Lockdown werden würde, war vielleicht nicht der allerglücklichste Umstand, um mit viel Optimismus in eine neue Zeit aufzubrechen. Denn mit den psychedelischen und knallbunten Versionen von Disney oder zuletzt Tim Burton, die im Popkultur-Gedächtnis als Adaptionen von Lewis Carrolls Klassiker fest verankert sind, hat die Fassung von Theaterlegende Robert Wilson und Ausnahme-Songwriter Tom Waits nichts zu tun. Lacher können zwar passieren, sind aber extrem rar gesät und generell regiert eine äußerst düstere Grundstimmung die Szenerie in dieser zweiten Zusammenarbeit von Wilson und Waits, die sich nach dem Erfolg von „The Black Rider“ 1992 dem Stoff mit Motiven aus dem berühmten Kinderbuch von Lewis Carroll vorgenommen hatten. Die Adaption ist dabei vor allem eine Reflektion über einen im Raum stehenden Missbrauchsverdacht. Denn der Autor von „Alice in Wunderland“, der in Wilsons Version unter seinem bürgerlichen Namen Charles Dogdson auftritt, interessierte sich so sehr für sein Fotomodell, dass die Eltern der damals elfjährigen Alice Lidell den beiden den Umgang miteinander verboten. Doch Beweise für tatsächlichen Missbrauch hat es nie gegeben.
Auf der Suche
Wenn es die Intention war, auf die Unklarheit über das befremdliche Verhältnis zwischen dem Autor und seiner minderjährigen Muse hinzuweisen, dann kann Regisseurin Mina Salehpour die Premiere als Erfolg verbuchen. Vieles bleibt im Dunklen, doch es breitet sich sofort ein mulmiges Gefühl im Zuschauerbauch aus, sobald Charles Dogdson (Hans-Werner Leupelt) auf der Bühne seine überdimensionierte Kamera auspackt, um die junge Protagonistin (Kriemhild Hamann) zu fotografieren. Alice lässt es geschehen, denn immerhin beschäftigt sich Charles mit ihr. Und in diesem wunderlichen Land, in dem ihr ständig seltsame Figuren über den Weg laufen, ist Alice überfordert und auf der Suche nach ihrer Identität. Sie kennt ihren Namen nicht, sie weiß nicht, wo sie sich befindet und wie sie dort hingekommen ist. Damit steht sie Patin für so viele vor allem junge Menschen in unserer Zeit, deren Identitätsverständnis längst kein beständiges, sondern im Gegenteil ständig in Bewegung ist. Das Nebeneinander von poetischer Selbstvergegenwärtigung und Überforderung wird vom Kriemhild Hamann ganz hervorragend verkörpert. Und auch gesanglich beeindruckt das Dresdner Ensemblemitglied.
Zwischen Zirkusmusik und Barjazz
Das Figurenpotpourri wird von den beliebten Figuren aus dem Kinderbuch-Klassiker ergänzt: die schelmische Grinsekatze, die verrückte Teegesellschaft oder die ehrfurchtgebietende Königin. Die Darsteller mühen sich dabei redlich, doch der Text bleibt auch abseits der englisch gesungenen Songs über weite Strecken undurchschaubar. So schwer die Worte zu dechiffrieren sind, so absichtsvoll behäbig ist die Musik des Septetts im Orchestergraben, das die vom ewigen Grantler Tom Waits zwischen Zirkusmusik und Barjazz angelegten Songs relativ zurückhaltend interpretiert. Dadurch bleibt den Musikern sogar Zeit, immer mal wieder direkt in das Stück einzugreifen und vereinzelt sogar die Bühne zu entern. Relativ minimalistisch ist das Bühnenbild, das oft nur von einem Element beherrscht wird. Diese wenigen eindrucksvollen Bauten sind dabei aber über die Maßen raumgreifend, so dass sie die Handlung perfekt illustrieren, aber nie dominieren. Wenn dann irgendwann die letzte Note relativ abrupt verklungen ist, bleibt ein beunruhigendes Gefühl zurück. Ein Theaterbesuch geht zu Ende, der gar nicht so leicht zu verdauen ist.
Alice
nach Lewis Carrolls ALICE IM WUNDERLAND
Regie: Mina Salehpour
Im Schauspielhaus,
Theaterstraße 2, 01067 Dresden
Redaktion: Philipp Demankowski