Filmkritik „TITANE“: Nach der Körperlichkeit
Der diesjährige Cannes-Gewinner „TITANE” von Julia Ducournau ist zeitgemäßes und expressives Kino voller Energie.
Im Mittelpunkt des Geschehens stehen zwei Figuren, denen das Menschsein konventioneller Vorstellungen nicht mehr ausreicht, die sich schon lange nicht mehr damit identifizieren können. Einen Alltag gibt es in ihrer Welt nicht. Beide Hauptfiguren sind gezeichnet von der Unfähigkeit zur Eingliederung, die allerdings durch traumatische Ereignisse ausgelöst wurden. Während Alexia (Agathe Rousselle) als Kind einen Unfall hatte und seitdem eine Titanplatte im Kopf trägt, ist Feuerwehrmann Vincent (Vincent London) gezeichnet durch das Verschwinden seines Sohnes, das zum Zeitpunkt der Handlung zehn Jahre zurückliegt. Zum Ausgleich flüchten sie sich ins Transhumane und verstärken ihre Körperlichkeit: Alexia durch die Weiterentwicklung eines verhängnisvollen Triebs und der muskelbepackte Vincent durch die Einnahme von Steroiden. Erst als sich die beiden im Film begegnen, sind Anleihen an klassische menschliche Empfindungen zu erahnen.
Identitäts-Verwicklungen
Regisseurin Julia Ducournau hat schon mit ihrem Debüt „Raw“ bewiesen, dass sie an Grenzen nicht interessiert ist. Gängige Identitätszuschreibungen unterwandert sie. Geschlecht ist in ihrer Welt keine Deutungs-Kategorie mehr und existiert nur noch als Erinnerung im Interpretationsraum der Zuschauer. Zwar werden strotzende Maskulinität und auch die Sexualisierung weiblicher Körper überdeutlich inszeniert. Beide Aspekte verschwimmen aber entweder oder werden gleich in der nächsten Szene dekonstruiert. Die Identitäts-Verwicklungen werden dabei getragen von zwei fantastischen Hauptdarstellern. Agathe Rousselle hetzt in ihrem ersten Langfilm ohne Kompromisse von einem Extrem ins nächste und bleibt dabei doch stets verletzlich. Dem französischen Schauspielveteran Vincent London wiederum gelingt es bis zum Ende des Films komplett unberechenbar zu bleiben.
Ungewöhnlicher Cannes-Gewinner
Dass „Titane“ die Goldene Palme in Cannes gewonnen hat, kann schon als Überraschung gewertet werden. Einerseits war der 2021er Jahrgang ziemlich gut besetzt, andererseits ist der Film nicht gerade klassisches Cannes-Material. Kein Sozialdrama oder Weltkino, auch kein Kunstfilm. Eher ist „Titane“ in vielerlei Hinsicht Genrekino mit Anleihen an die Body-Horror-Entwürfe von David Cronenberg. Zudem hat der Film eine Kraft, die die Zuschauer regelrecht in die Kinositze drückt. „Titane“ ist eine Tour de Force, die dem Publikum vor allem in der ersten halben Stunde einiges abverlangt. Der Härtegrad ist nicht ohne. Nicht wenige Cannes-Stammgäste sprachen vom brutalsten Film, der jemals auf dem Festival lief. Nie allerdings verkommen die Gewaltspitzen zum Selbstzweck, sind immer nachvollziehbare Charakterbeschreibung. Dabei erzählt Julia Ducournau in nächtlichen Bildern und führt ihre Handlung in die Unorte urbaner Existenz: Alexia wandelt durch Lagerhallen, oder Autobahnen, Vincent zieht sich in seine Feuerwehrbasis zurück. Ein Film voller Energie, den man gesehen haben muss.
Titane
Regie: Julia Ducournau, Filmstart: 7. Oktober
Redaktion: Philipp Demankwoski