Edward Hopper: Allein oder Einsam?

Edward Hopper, „Morning Sun”, 1952, Öl auf Leinwand, 71 x 102 cm, © Columbus Museum of Art, Ohio: Museum Purchase, Howald Fund
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Die Ausstellung „Edward Hopper. Die innere und die äußere Welt“ stellt neue Fragen zu einem Klassiker urbaner Isolation.

Es gibt nicht viele amerikanische Maler, die das ästhetische Empfinden im 20. Jahrhundert so sehr geprägt haben wie Edward Hopper. Das 1942 entstandene „Nighthawks“ (deutsch: „Nachtschwärmer“) ist ohne Zweifel ein unumstößlicher Klas­siker der amerikanischen Malerei, dessen Einfluss auch durch den Widerhall in der Popkultur nicht hoch genug zu bewerten ist. Die emphatische Studie urbaner Isolation fühlt sich heute noch genauso akkurat an wie zur Zeit der Entstehung des Bil­des. Im Mittelpunkt der neuen Ausstellung „Edward Hopper. Die innere und die äußere Welt“ steht allerdings ein anderes Gemälde. Das nicht weniger eindrucksvolle „Morning Sun“ kommt aus dem Museum of Art der Dresdner Partnerstadt Columbus in die Gemäldegalerie Alte Meister. Ähnlich wie die Protagonisten in „Nachtschwärmer“ schaut eine Frau gedankenverloren durchs Fenster in die aufgehende Sonne. Die Figur modellierte der Maler dabei nach dem Vorbild seiner Ehefrau Josephine.

Erstaunliche Parallelen

Ergänzt wird die Ausstellung von einigen Gemälden aus der Sammlung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Es empfiehlt sich für die Besucher zudem, auch die Ausstellung zum brieflesenden Mädchen von Vermeer zu besuchen, die ebenfalls in der Gemäldegalerie Alte Meister zu besichtigen ist. Denn gerade auf der inhaltlichen Ebene gibt es erstaunliche Gemeinsamkeiten. Obwohl beide Gemälde in einem zeitlichen Abstand von fast dreihundert Jahren entstanden und in einem sowohl örtlich als auch geistig völlig unterschiedlichen Kontext geschaffen wurden, entdeckt der Betrachter Paral­le­len, die über die rein kompositorische Feststellung hinausgehen, dass eine Frau an einem Fenster jeweils im Zentrum der Bilder steht. Überwiegend werden die Werke als Muster­bei­spiele für Einsamkeit interpretiert, doch die Ausstellung will diese dominante Betrachtungsweise kritisch hinterfragen.

Neue Fragen

Im Lichte der Errungenschaften emanzipatorischer Bewegun­gen in jüngster Zeit scheint es notwendig, andere Fragen stellen. Was wäre, wenn sich die beiden Protagonistinnen ganz be­wusst für ein selbstbestimmtes Leben entschieden hätten, dass nicht zwangsweise den Kontakt oder gar die Abhängigkeit von Mitmenschen beinhaltet? Könnte das Herausschauen aus dem Fenster in „Morning Sun“ einfach nur das bewusste Be­trachten des Sonnenaufgangs verdeutlichen, eine genussvolle Wahr­neh­mung, die mit Isolation gar nichts zu tun hat? Und wer weiß schon, was in dem Brief in Vermeers Bild steht? Hat das Mädchen möglicherweise einfach Freude am Lesen?

Edward Hopper. Die innere und die äußere Welt.
September 2021 bis 9. Januar 2022
Gemäldegalerie Alte Meister
im Semperbau am Zwinger
Theaterplatz 1, 01067 Dresden
www.skd.museum

Redaktion: Philipp Demankowski

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