Filmkritik „Das Ereignis”: Trotz widriger Umstände
In Audrey Diwans „Das Ereignis” nimmt eine starke Hauptdarstellerin ihr Schicksal selbst in die Hand.
Die junge Literaturstudentin Anne träumt vom sozialen Aufstieg, indem sie sich im Frankreich der frühen 1960er Jahre eigentlich auf ihr Studium konzentrieren will. Schließlich will die Tochter eines Restaurantbesitzerehepaars den Zwängen ihrer Herkunft entkommen. Doch eine ungewollte Schwangerschaft zerstört ihre Pläne. In einer Zeit, in der Abtreibungen mit rigiden Strafen belegt und auch potenzielle Mitwisser nicht vor strafrechtlichen Konsequenzen gefeit sind, zerfällt Annes Welt wie ein Kartenhaus. Ihre Freunde wenden sich von ihr ab und auch das Studium fällt ihr aufgrund der ungewissen Zukunft immer schwerer. Die Geschichte basiert auf den Erfahrungen der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux, die sich 1964 als Literaturstudentin in Rouen einer heimlichen Abtreibung unterzogen hatte. Regisseurin Audrey Diwan macht in ihrem Zweitwerk aber nicht den Fehler, den Film als Historienstück zu konzipieren. Einzig, dass auf den Studentenpartys Rock’n’Roll läuft, macht deutlich, in welcher Zeit „Das Ereignis“ spielt. Ansonsten könnte das Geschehen optisch und auch hinsichtlich der Kommunikation der Figuren untereinander auch in der Gegenwart spielen. Das ist ein schlauer Kniff, weil die Umstände dadurch auch als Parabel für gesellschaftliche Zwänge funktionieren, die uns heute beschäftigen.


Intime Kamera
Eine kleine Sensation ist die Hauptdarstellerin Anamaria Vartolomei, die zwangsweise einen Großteil der Wirksamkeit des Films auf ihren Schultern trägt. Die Rumänin, die inzwischen in Paris lebt, legt Anne nicht etwa als reines Opfer an. Natürlich verlangen die Umstände auch seltene Momente der Verzweiflung, doch Anne nimmt ihr Schicksal in die Hand, sucht nach Auswegen aus einer scheinbar ausweglosen Situation. Die Kamera des Franzosen Laurent Tangy beobachtet ihre Handlungsentscheidungen dabei äußerst präzise, ist ständig ganz nah an Anne dran. Dass sich die Regisseurin Audrey Diwan und ihr Kameramann für diese mitunter schmerzhafte Nähe entschieden haben, ist ein Glücksfall für die Immersion des Films. Dabei verlangt sie ihrer Protagonistin aber auch einiges ab, schaut sie doch auch bei intimsten Momenten nicht weg. Dass „Das Ereignis“ mit dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele in Venedig ausgezeichnet wurde, ist da nur folgerichtig. Auch wenn der Film nicht ganz die Wucht des thematisch ähnlich gelagerten „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ erreichen kann, ist „Das Ereignis“ doch ein nachhallendes Portrait einer jungen Frau, die sich nicht unterkriegen lässt.
Das Ereignis
Regie: Audrey Diwan
Filmstart: 31. März 2022
Redaktion: Philipp Demankowski