Filmkritik „Die Wütenden – Les Misérables“: Parade der Pulverfässer

Bild: Wild Bunch Germany
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In seinem Debüt-Spielfilm „Die Wütenden – Les Misérables“ entwirft Ladj Ly ein wuchtiges Sozialdrama über seine Heimat, den Pariser Vorort Montfermeil.

In den ersten Bildern verfolgen wir die Feierlichkeiten der Franzosen zum Gewinn der letzten Fußball-Weltmeisterschaften. Stolze Nationalsymbole wie der Eiffelturm oder der Arc de Triomphe werden überdeutlich inszeniert. Die blau-weiß-rote Herrlichkeit überdeckt kurzzeitig die bestehenden Probleme. Denn die überbordende Freude trügt. Das macht schon der leicht anschwellende, aber zum Ende hin umso bedrohlichere Score deutlich. Direkt nach diesem Jubelprolog befinden wir uns im Polizeiauto von Stéphane, Chris und Gwada, die in zivil Streife fahren im Pariser Banlieue Montfermeil. Stéphane, der sich aus der Provinz hierher versetzen lassen hat, um seinem Sohn näher zu sein, wird von seinen neuen Kollegen eingewiesen. Montfermeil spielte eine Hauptrolle bei den Unruhen in Frankreich 2005 und die unterdrückte Wut kocht noch immer. In dem Viertel steht Pulverfass neben Pulverfass. Im heißen Sommer des Jahres 2018 genügt nur ein kleiner Funke zur Entzündung. Die drei Polizisten können nur mit größter Mühe und unter Verwendung fragwürdiger Methoden die Ordnung aufrecht halten.

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Hoher Realismusgrad

Dabei müssen sie mit sich mit klauenden Kindern auseinandersetzen, aber auch mit den Mitgliedern der Muslimbruderschaft, die das Viertel zum Teil in ihre Hand genommen haben, sowie mit einem selbsternannten Bürgermeister. Bald wird klar: Es gibt keine Heiligen in Montfermeil. Ein Umstand, an dem Stéphane noch am meisten zu knabbern hat, während sich seine Kollegen längst damit arrangiert haben. Bald entspinnt sich ein Plot, der klassischen Filmgesetzen folgt. Es gibt einen MacGuffin, ein Objekt, das gesucht wird und zum Schauplatzwechsel dient. Dabei entfaltet der Film eine Wucht, die jederzeit mitreißt. Es gibt nur eine kurze Phase der Ruhe, die die Atmosphäre ständiger Streitereien und gehetzter Verfolgungsjagden unterbricht, bevor ein furioses Finale nochmal für allgemeines Unwohlsein sorgt. Das folgt dramaturgisch nicht unbedingt gängigen Konventionen, wirkt aber dadurch umso realistischer.

Bild: Wild Bunch Germany
Mischung aus Laien und Profis

Regisseur Ladj Ly weiß wovon er spricht. Er ist in Montfermeil aufgewachsen und hat sich mit seinem seinen ersten Dokumentarfilm „365 jours à Clichy-Montfermeil“ bereits an der Gewalt abgearbeitet, die sich in den Pariser Vororten entlud. „Die Wütenden – Les Misérables“ ist sein erster Spielfilm, den er mit einer Mischung aus Laien- und professionellen Schauspielern gedreht hat. Es ist ein Glück für die Zuschauer, dass sich Ladj Ly so gut auskennt. Man lernt nebenbei viel über die Mechanismen, die dazu beitragen, dass das Leben im Stadtviertel funktioniert. Die Anlehnung an Victor Hugos Roman im Titel ist natürlich nicht zufällig. Der Autor hatte „Die Elenden“ in Montfermeil geschrieben. Wer will, kann auch Parallelen der Kinder aus dem Film zum Straßenkind Gavroche aus dem Roman ziehen. Dass „Die Wütenden – Les Misérables“ gelungen ist, beweist nicht nur der große Preis der Jury in Cannes, sondern auch die Tatsache, dass der Film Frankreichs offizieller Beitrag für den Auslands-Oscar 2020 ist.

„Die Wütenden – Les Misérables“

Regie: Ladj Ly
Filmstart: 23. Januar 2020

Text: Philipp Demankowski

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