Filmkritik „Drive My Car”: Theater im Auto
Der japanische Regisseur Ryūsuke Hamaguchi adaptiert Haruki Murakamis Erzählung „Drive My Car”. Dabei kommt einer der schönsten Filme des Jahres heraus.
Klar, drei Stunden Lauflänge sind auch für Arthouse-Kinogänger keine Standardkost mehr. Wer sich allerdings auf „Drive My Car“ einlässt, den achten Spielfilm des Japaners Ryūsuke Hamaguchi, wird mit einer der schönsten Kinoerfahrungen des Jahres belohnt. Die Adaption von Haruki Murakamis gleichnamiger Kurzgeschichte braucht dann auch jede ihrer 179 Minuten und bleibt dafür lange im Gedächtnis. Nach einem extralangen Prolog – der Vorspann erscheint nach gut 45 Minuten – setzt die eigentliche Handlung ein. Der Schauspieler und Theaterregisseur Yusuke Kafuku (Hidetoshi Nishijima) fährt mit dem eigentlichen Star des Films, seinem roten Saab 900, nach Hiroshima, um Tschechows „Onkel Wanja“ bei einem Theater-Festival zu inszenieren. Ihm wird die schüchterne Fahrerin Misaki (Toko Miura) zur Seite gestellt, die offenbar das Lächeln verlernt hat. Nach anfänglicher Skepsis öffnen sich die beiden Schicksalsgenossen immer mehr bis der abschließende Road Trip in einer der schönsten Umarmungen der Kinogeschichte mündet. Parallel wird die Premiere des Stücks vorbereitet.
Hoffnung trotz Verlust
In klaren und aufgeräumten Bildern entwickelt Ryūsuke Hamaguchi seine Figuren, die sich vor allem bei den langen Autofahrten in Gesprächen gegenseitig dabei unterstützen, die inneren Konflikte aus ihrer Vergangenheit zu lösen. Schuld wird dabei genauso verhandelt wie Vergebung und Verlust. Hamaguchi bietet keine einfachen Lösungen an. Nichts wird beschönigt und doch geht die Hoffnung nie verloren. Der Re-gisseur, der gemeinsam mit Oe Takamasa auch das Drehbuch geschrieben hat, spiegelt die Komplexität menschlicher Beziehungen sowohl in den Dialogen als auch in den Rezitationen von „Onkel Wanja“ wider, die durch einen geschickten Skripteinfall ebenfalls ständiger Teil der Autofahrten sind. Selten, aber dann umso effektiver werden die Fahrten vom Score der japanischen Musikerin Ishibashi Eiko untermalt, die eine Art urbanen Mystizismus vertont.
Nachhallende Dialoge
Auch die Nebenfiguren wie der ambitionierte, aber hitzige Jungschauspieler Koshi Takatsuki (Masaki Okada) oder der gutmütige Produktionsassistent Yoon-su (Jin Daeyeon) sind so ausführlich ausgearbeitet, dass sich der Zuschauer stets auch für ihre Geschichte interessiert. Gleichzeitig wird der Alltag der Schauspieler so anschaulich dargestellt wie selten im Kino. Das führt dazu, dass sich die Sichtung von „Drive My Car” wie das Lesen eines Buches anfühlt. Die Dialogzeilen hallen nach und sind universell auf die Lebenswelten der Zuschauer übertragbar, egal aus welchen Kulturkreisen sie kommen. Das spezifisch Japanische drückt sich höchstens in der landestypischen Höflichkeit und Distanziertheit aus, die wiederum auch das Verhältnis des Films zum Zuschauer charakterisieren. „Drive My Car” ist ein Angebot, das keiner annehmen muss. Aber wer es schafft, die Dialoge zu reflektieren, geht emotional gestärkt, vielleicht sogar getröstet aus dem Kino.
Drive My Car
Regie: Ryūsuke Hamaguchi, Filmstart derzeit unklar
Redaktion: Philipp Demankowski