Zwei Dekaden Genusskultur
Prof. Dr. Georg Prinz zur Lippe (Weingut Schloss Proschwitz) und Clemens Lutz (Kochsternstunden) im Gespräch über die Entwicklung der Ess- und Trinkkultur in der Region.
Sowohl Prof. Dr. Georg Prinz zur Lippe als auch Clemens Lutz haben die Geschichte des Genusses in der Region Dresden wesentlich geprägt. Schon ab 1990 kaufte Prof. Dr. Georg Prinz zur Lippe das Weingut und Schloss Proschwitz, das einst seiner Familie gehörte, nach und nach zurück und sanierte es sukzessive. Heute gilt das neubarocke Gebäudeensemble nicht nur als hervorragende Location für Konzerte, Park- und Schlossfeste, Tagungen oder Hochzeiten, sondern vor allem als Heimstatt der hervorragenden Weine, die im ältesten privaten Weingut Sachsens gekeltert werden. Clemens Lutz hingegen wird weithin geschätzt als einer der Gründer des Menüwettbewerbs ,,Kochsternstunden”, der gerade in seinem zehnten Jahr zu Ende ging und einmal mehr Rekorde verzeichnen konnte. In dieser für ihn so aufregenden Zeit Anfang des Jahres ist er fast täglich in einem der teilnehmenden Restaurant zu Gast und kennt die Szene dadurch wie kein Zweiter. Gemeinsam mit dem Gastronomen Steffen Gebhardt betreibt er zudem die Eventlocation convea, die sich in den Kasematten und dem Kanonenhof unterhalb der Brühlschen Terrasse befindet. Wir trafen uns mit den beiden sympathischen Repräsentanten der Dresdner Ess- und Trinkkultur auf Schloss Proschwitz, das auch als Eröffnungsort der Kochsternstunden dient, um bei einem lockeren Gespräch über zwanzig Jahre Genuss in der Region zu philosophieren.
Top: Wenn Sie mit den Erfahrungen von heute zwanzig Jahre zurückschauen: Wodurch war das gastronomische Leben in der Region Dresden gekennzeichnet?
Prof. Dr. Georg Prinz zur Lippe: Vor zwanzig Jahren war das gastronomische Leben eigentlich in erster Linie erstmal dadurch gekennzeichnet, dass man versucht hat, Dinge auf die Beine zu stellen. Es war eine Zeit, in der viel Aufbauarbeit geleistet wurde und die noch entsprechend unstrukturiert war. Da war der Überlebenskampf wichtiger als alles andere. Es war nicht üblich, auch einmal auf die Bremse zu treten, um neue Kraft zu tanken.
Was hat sich diesbezüglich heute geändert?
Prof. Dr. Georg Prinz zur Lippe: Die Menschen sind gesundheitsbewusster und achten auf eine ausgeglichene Work-Life-Balance. Da hat schon ein Denkprozess stattgefunden. Gutes Essen und Trinken spielt dabei eine große Rolle. Denn nur wenn ich bereit bin, mir selber etwas zu gönnen, gewinnt das Leben und der Umgang der Menschen miteinander eine ganz neue Qualität. Wer genießt, ist leistungsfähiger. Und kreativer.
Trägt eine Veranstaltung wie die ,,Kochsternstunden”, an der ja viele Gastronomen beteiligt sind, dazu bei, dass sich ein Gemeinschaftsgefühl in der Gastroszene entwickelt?
Clemens Lutz: Ich denke schon. Es war stets ein Anliegen von mir, so etwas wie ein Community-Gefühl zu erzeugen. Nicht nur mit den ,,Kochsternstunden”, sondern auch mit Veranstaltungen wie beispielsweise dem ,,Gastrotisch”, bei dem wir uns wöchentlich in einem anderen Restaurant treffen. Dadurch kommen Gastronomen zusammen, die sich gegenseitig inspirieren und voneinander lernen. Auch bei Events wie dem ,,Indian Summer” oder den ,,Genusswelten” gestalten die Köche gemeinsam eine Plattform. Das ist natürlich immer hilfreich.
Inwiefern trägt der Restaurantbesuch auch zur Identitätsstiftung in einer Region bei?
Prof. Dr. Georg Prinz zur Lippe: Je internationaler und unübersichtlicher die Welt wird, desto mehr sucht man nach Verortung. Das kann eine Stadt sein, ein Freundeskreis, aber eben auch ein Restaurant oder ein Weingut. Das sind identitätsstiftende Punkte der Verortung. Zusammenhänge, in denen man sich zuhause fühlt. Es ist ein großes Glück, wenn man seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat.
Ist es nicht auch wichtig, Erfahrungen in anderen Städten zu sammeln? Gerade im gastronomischen Bereich.
Georg Prinz zur Lippe: Natürlich. In Dresden ist eine junge Generation von Köchinnen und Köchen nachgerückt, die ihren Horizont bei zahlreichen Stationen im Ausland oder in anderen deutschen Städten erweitert hat und nicht nur die Basics der sächsischen Küche kennt. Aber auch diese jungen Kollegen haben diese Bindung zur Region. Sie setzen dank ihrer Erfahrungen notwendige Impulse in der hiesigen Genusslandschaft.
Wie bewerten Sie heute die gehobene Küche?
Prof. Dr. Georg Prinz zur Lippe: Die Gourmetgastronomie oder gehobene Küche ist heute kein abgeschlossener Zirkel mehr. Sie steht potenziell jeglichen Genießern offen. Das ist vor allem durch den Abbau der Distinktionen möglich geworden. Die stilbildenden weißen Handschuhe sieht man heute kaum noch, auch nicht in der Gourmetgastronomie. Da hat eine Öffnung stattgefunden. Auch die Interaktion zwischen Gast und Gastgeber ist heute eine andere. Lockere Gespräche gehören da zur Tagesordnung. Zu diesem Trend gehört auch die Veranstaltung ,,Indian Summer”, die wir mit den ,,Kochsternstunden” initiiert haben. Wir wollen damit eine gewisse Leichtigkeit etablieren. Die Gäste gehen von Kochstation zu Kochstation. Da kommt man natürlich viel leichter ins Gespräch.
Clemens Lutz: Ohnehin schafft es ein gutes Essen, Hemmungen abzubauen. Es dient als Brücke und eignet sich deshalb auch für Geschäftsgespräche unheimlich gut. Man teilt eine Leidenschaft. Relativ schnell entsteht dabei ein freundschaftliches Verhältnis.
Was waren noch treibende Kräfte der Veränderungsprozesse?
Prof. Dr. Georg Prinz zur Lippe: Nicht vergessen darf man den medialen Einfluss. Die ganzen Kochsendungen im Fernsehen stellen den Menschen einen Lifestyle vor, den sie nachleben wollen. Auch die verbesserte Infrastruktur spielt eine Rolle. Ich fühle mich heute in Proschwitz viel näher an Dresden dran.
Hat sich das gastronomische Angebot in der Region auch in der Breite verstärkt?
Prof. Dr. Georg Prinz zur Lippe: Es gibt vor allem viel mehr qualitätsorientierte Gastronomen, die ihr Restaurant auf der Grundlage ganz individueller Ansprüche führen. Früher war die kulinarische Landschaft nicht nur enger, sondern auch normierter. Heute gibt es in allen Bereichen ein gutes Angebot. Wir haben tolle Köchinnen und Köche in der Spitzengastronomie, aber auch in Sachen internationaler oder gutbürgerlicher Küche sind wir mit Restaurants, die Experimente nicht scheuen, gut aufgestellt.
Clemens Lutz: Es hat sich auch hinsichtlich der Versorgungslage viel geändert. Früher gab es nur eine Handvoll Bio-Höfe, die mit der Maßgabe einer bestimmten Philosophie geleitet wurden. Heute ist das Angebot, von dem die Gastronomen zehren können, wesentlich umfangreicher. Diese Erweiterung des Spektrums hat auch damit zu tun, dass sich die Grundeinstellung im Gewerbe generell geändert hat. Die Nachfrage nach guten Produkten ist viel größer. Qualität spielt heute einfach eine größere Rolle als früher.
Wie hat sich denn die gastronomische Denkweise geändert?
Clemens Lutz: Heute will nicht mehr jeder der Beste sein, sondern einfach nur gut, indem was er tut. Unabhängig von den Kollegen. Das ist natürlich ein großer Luxus. Der Hauptgrund dafür ist, dass die Menschen in den Restaurants nicht mehr ohne Rücksicht ums Überleben kämpfen müssen, sondern nach Glück streben können. Da hat eine gesellschaftliche Werteverschiebung stattgefunden, bei der Genuss eine wesentliche Rolle spielt.
Worin bestehen die großen aktuellen Herausforderungen in der Branche?
Clemens Lutz: Wir erleben in der Gastronomie gerade die nicht wegzudiskutierende Tatsache, dass uns die Fachkräfte davonlaufen. Dieser Notstand wird aber auch Dinge verändern. Es sind sicherlich Kompromisse notwendig, allerdings bin ich davon überzeugt, dass die individuelle, hochwertige Gastronomie weiter floriert. Auch, weil die einfachen Konzepte gar nicht mehr möglich sind. Der Druck zur Akzentuierung der eigenen Stärken ist da.
Wie nehmen denn die Konsumenten heute den Restaurantbesuch wahr?
Prof. Dr. Georg Prinz zur Lippe: Das Ziel ist heute eher, ein Gesamterlebnis zu bekommen. Es geht nicht nur um das eigentliche Essen und Trinken. Auch die Persönlichkeit des Gastgebers, das Ambiente, der Service, die Geschichte des Hauses und die anderen Gäste, die das jeweilige Restaurant besuchen, spielen in die Wahrnehmung hinein.
Clemens Lutz: Andererseits hat das Essengehen an sich heute schon genug Eventcharakter. Früher verband man den Gang ins Restaurant noch mit dem Besuch eines Theaterstücks oder einer Party. Heute nehmen sich die Gäste im Restaurant gerne ein wenig mehr Zeit, erwarten dafür aber auch ein abendfüllendes Programm. Damit geht natürlich einher, dass der Gast von heute viel höhere Ansprüche hat, die es zufrieden zu stellen gilt. Das ist wohl die größte Herausforderung unserer Branche.
www.kochsternstunden.de
www.schloss-proschwitz.de
Interview: Philipp Demankowski