Haus Schminke: Vom „Nudeldampfer“ zur Architektur-Ikone

© Cornelia Normann
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Es ist einzigartig in seiner Bauweise und zählt zu den fünf wichtigsten Wohnhäusern der klassischen Moderne weltweit: das Haus Schminke in Löbau. Trotzdem ist das Gebäude bislang kaum bekannt. Top Magazin hat sich zusammen mit Frank Weißflog, Architekt und Kenner des Hauses, auf Entdeckungstour durch dieses einzigartige Bauwerk begeben.

„Das Haus ist meiner Meinung nach eines der fünf wichtigsten grundlegenden Architekturstatements, die es auf der Welt gibt“, sagt Frank Weißflog und nennt es in einem Atemzug mit der Villa Savoye in Poissy bei Paris, der Villa Müller in Prag, dem Haus Tugendhat in Brünn und dem Haus Fallingwater in Pennsylvania. Errichten ließ es der Unternehmer Fritz Schminke für sich, seine Frau und seine vier Kinder, nur einen Steinwurf entfernt von seiner Teigwarenfabrik. Mit dem Bau beauftragte die architekturbe­geisterte Familie den Architekten Hans Scharoun, der damals eine Professur in Breslau innehatte und von dessen Entwurf eines Ledigenwohnheims für alleinstehende Frauen das Ehepaar Schminke begeistert war. Ein Haus „von der Stange“ kam weder für die Schminkes noch für den Architekten infrage; der Bauherr erteilte folgenden Auftrag: „Ein modernes Haus für zwei Eltern, vier Kinder und gelegentlich ein bis zwei Gäste.“ Wohnen und Arbeiten, Natur und Technik sollten sich nach den Vorstellungen der Schminkes nicht ausschließen, sondern Hand in Hand gehen. „Die Entwicklung des Hauses war ein riesiger Aufwand. Hans Scharoun hat es für die Schminkes maßgeschneidert“, berichtet Frank Weißflog. „Das ganze Budget war bereits nach der Bodenplatte ausgeschöpft.“ Als Unternehmer konnte Fritz Schminke das Vorhaben dennoch bis zum Ende stemmen, sodass es im Mai 1933 fertiggestellt werden konnte.

© Cornelia Normann

Fließende Übergänge und ganz viel Licht
Natürlich überließ ein Architekt wie Hans Scharoun dabei nichts dem Zufall. Die Wohnräume sind besonders großzügig angelegt und nach Süden hin ausgerichtet, sodass sie entsprechend lichtdurchflutet sind und durch die großen Scheiben den Blick auf den idyllischen Garten freigeben. Zusätzlich sorgen Oberlichter als weitere Lichtquelle für eine helle und freundliche Atmosphäre. An das Wohnzimmer schließt sich ein Wintergarten mit üppigem Grün und einem Springbrunnen an. Überhaupt ist das Haus so luftig konstruiert, dass die Grenzen zwischen drinnen und draußen zu verschwimmen scheinen und der Garten sich wie selbstverständlich direkt an die Wohnräume anschließt. Vor allem Fritz Schminkes Ehefrau Charlotte, die gelegentlich zu depressiven Verstimmungen neigte, kam das zugute, denn sie fand inmitten der Pflanzenvielfalt Aufmunterung und Erholung. Den Blick auf den Garten gab auch der Essbereich frei, der direkt auf die Arbeitsküche und die separate Anrichte folgt – auch hier gilt: Funktionalität at its best.

Bullaugen für neue Perspektiven
Doch das ist noch längst nicht alles, denn das Haus ist bis ins kleinste Detail durchdacht. Hans Scharoun gestaltete das komplette Gebäude individuell nach den Bedürfnissen seiner Bewohner. So gibt es vor allem auf den zweiten Blick unendlich viel zu entdecken, was einen ausgiebigen Rundgang durch die zwei Etagen absolut lohnenswert macht und immer wieder zu Aha-Effekten führt. Der aus Bremer­haven stammende Scharoun nutzte zum Beispiel in Anlehnung an seine maritime Heimatstadt häufig Gestaltung­elemente, wie man sie typischerweise im Schiffsbau findet, was dem Haus zudem den Spitznamen „Nudel­dampfer“ einbrachten“. In ca. einem Meter Höhe befinden sich beispielsweise an manchen Türen etwa untertassengroße Fenster mit Glas in verschiedenen Farben, sodass die Kinder hindurchschauen und so ihre ganz eigene Sicht auf die Welt entdecken konnten. Im offenen Spielbereich gab es weiterhin eine große Kreidetafel sowie Schließfächer für die Spielsachen und Fenster auf Kniehöhe. „Doch nicht etwa, damit die Kinder sie einfach nur gut öffnen und schließen, sondern vor allem, damit sie direkt hinaus- und wieder hineinklettern konnten“, wie Frank Weißflog erklärt. Ein Paradies für jedes Kinderherz.

Verschiedene Farben sorgen für Spannung
Bei einer Tour durch das Gebäude lassen sich unzählige weitere Kniffe des genialen Architekten Hans Scharoun entdecken. Frank Weißflog verweist zum Beispiel auf Gitter vor kleineren, weniger auffälligen Fenstern, die nicht nur vor Einbruch schützen, sondern stets auch für eine gute Durchlüftung des Gebäudes sorgen. Weiterhin sind viele Elemente zweifarbig gestaltet, um sie filigraner wirken zu lassen. Auch die großen Schiebetüren innerhalb des Wohnbereichs folgen diesem Prinzip, indem eine Tür weiß, die andere mit dunklen Streifen versehen ist. Hatte die Familie zum Beispiel Gäste zum Tanz eingeladen, konnten die beiden Türen unterschiedlich geschlossen werden, sodass jeweils eine andere Atmosphäre entstand. Und sogar die Fensterbänke sind zweifarbig gestaltet, damit einerseits das Licht ins Haus hineinreflektiert wird und andererseits auch ausreichend Platz für Grünpflanzen war. Das Obergeschoss ist im Gegensatz zum Erd­geschoss vergleichsweise schlicht gehalten, folgt aber ebenso absoluter Funktiona­lität. Hier befanden sich die Schlafzimmer von Eltern und Kindern. Ein Zimmer ist herausgestellt, hängt also frei und ist genau nach Osten ausgerichtet, um den Raum mit Mor­gen­­sonne zu durchfluten. In der ersten Etage befanden sich außerdem aufgereiht in einem langen Gang die Schränke sämtlicher Familienmit­glieder. Zu den Möbeln erklärt Frank Weißflog: „Es gibt überall Einbau­möbel, denn das Mobiliar wurde immer fest mit integriert.“ Ein weiterer genialer architektonischer Schachzug, um den Platz so effektiv wie möglich zu nutzen.

Architekt Frank Weißflog ist Kenner und Liebhaber des Schminke-Hauses / © Cornelia Normann

Und heute? Das Haus Schminke lädt ein
Doch die politischen Wirren der 1930er Jahre meinten es auch mit der Fabrikantenfamilie nicht gut, sodass die Schminkes ihr Traumhaus lediglich zwölf Jahre bewohnten und 1945 vor der näher rückenden Kriegsfront flüchteten. Die Rote Armee beschlagnahmte das Gebäude und nutzte es als Militärkomman­dantur. 1946 erhielt die Familie das Haus zurück, ging aber in den 1950er Jahren nach Westdeutschland. 1951 wurde es Clubhaus für die FDJ, ein Jahr später enteignet, und ab 1963 bis zur Wende 1989 war es das „Haus der Pioniere“. Heute kümmert sich die „Stiftung Haus Schminke“ um das geschichtsträchtige Baudenkmal und zieht architektur- und kunstbegeisterte Besu­cher aus aller Welt an. Es kann jederzeit per Audioguide oder bei einer Führung erkundet werden. Und wer sich einmal wie die damaligen Bewohner fühlen will, kann das Gebäude auch für Übernachtungen mieten. Wetten, dass Sie dann noch das ein oder andere fantastische Detail entdecken werden?

www.stiftung-hausschminke.eu
www.architekturfreidenker.net

Redaktion: Ute Nitzsche

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