Filmkritik „Martin Eden“: Das Schicksal des armen Schluckers

Foto: © Francesca Errichiello
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Regisseur Pietro Marcello verlegt Jack Londons Bildungsroman „Martin Eden“ nach Italien. Das ist gewagt, gelingt aber auf mehreren Ebenen.

Der Film singt zunächst ein Hohelied auf die Bildung. Nachdem Martin von den Freuden der Literatur erfahren hat, stürzt sich der gewitzte Titelheld (Luca Marinelli), der aber als Matrose über keine intellektuelle Ausbildung verfügt, in die Lektüre. Bald hat es ihm besonders der englische Soziologe Herbert Spencer angetan, der die Evolutionstheorie auf die Gesellschaft anwandte. Damit stößt er allerdings allerorten auf Missmut. Einerseits bei seinen Klassenkameraden aus der Arbeiterschicht, den das Kollektiv und den Arbeitskampf preisenden Sozialisten. Andererseits aber auch bei den bürgerlichen Liberalen in ihren Salons, zu denen wiederum Martins geliebte Elena gehört. Seine Angebetete will ohnehin von Armut nichts hören und hängt am Rockzipfel der Mutter. Der Konflikt ist vorprogrammiert. Martin legt inzwischen alles darauf an, Schriftsteller zu werden. Doch die Absagen der Literaturzeitschriften kommen bündelweise bei ihm zuhause an.

Ein Spritzer Dokumentarfilm

Aufgrund der Romanvorlage sind die erzählerischen Grenzen für Regisseur Pietro Marcello recht eng gesetzt, auch wenn er sich immer mal wieder Schlenker erlaubt. Tatsächlich erzählt der Film zunächst lange Zeit eine recht konventionelle Heldengeschichte, der man aber durch das mitreißend sympathische Spiel von Luca Marinelli gerne folgt. Der Triumph des Films liegt auf einer anderen Ebene. Der Regisseur hatte sich seinen Leumund vor seinen beiden Spielfilmen vor allem im dokumentarischen Segment verdient. Das ist spürbar, indem immer wieder kleine dokumentarisch anmutende Sequenzen in Sepia oder blaugefärbt eingestreut werden, die Martins emotionalen Zustand illustrieren und auch die Handlung spiegeln. Zusammen mit der stets passend gewählten Musik sorgt die Vielfalt der Bilder für eine faszinierend-eigentümliche Atmosphäre, die an die großen italienischen Neorealisten erinnert, wenn sie doch ab und an mal ein ästhetisches Wagnis eingegangen wären.

Foto: © Francesca Errichiello
Opium fürs Volk

Gelungen ist auch der Umstand, dass man nie genau weiß, in welcher Zeit der Film eigentlich spielt. Zwar taucht auch Mussolini auf, doch wenn der schöne Martin Eden zu französischem Schlager durch italienische Gassen flaniert und von den Frauen angehimmelt wird, wähnt man sich eher in den achtziger Jahren. Irgendwann ist der Konflikt zwischen Ambitionen und Armut auserzählt und Martin Eden hat sich als Schriftsteller mit nationalem Ruhm etabliert. Geschafft hat er das mit Erzählungen aus seinem früheren Milieu um die Fabrik- und Hafenarbeiter. Über den Erfolg ist er selbst zu dem Spektakel geworden, dass er mit seiner Literatur immer bekämpfen wollte. Er hat sich eine Lebenswelt erschaffen, die er nur mit breit gestreutem Sarkasmus ertragen kann. Er ist Opium für das Volk. Längst hat er gemerkt, dass nicht alles Gold ist, was glänzt, und dass auch Bildung vielleicht nicht immer zu dem Ziel führt, das man im Sinn hat.

Martin Eden

Regie: Pietro Marcello
Kinostart: voraussichtlich 28. Januar 2021

Text: Philipp Demankowski

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