Der Herr der Bücher
Die Studierenden an der TU Dresden kennen sie wie ihre Westentasche: Die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden oder kurz SLUB gehört mit über fünf Millionen Bestandseinheiten zu den größten Bibliotheken im deutschsprachigen Raum. Seit Sommer 2018 steht ihr Dr. Achim Bonte als Generaldirektor vor, nachdem Prof. Dr. Thomas Bürger nach 15 Jahren Leitung in den Ruhestand ging. Das Top Magazin Dresden sprach mit Dresdens oberstem Bibliothekar über die Entwicklung des Hauses und die Anforderungen an eine moderne Universitätsbibliothek.
Top: Was hat Sie letztendlich dazu veranlasst, die Stelle als Generaldirektor der SLUB anzunehmen? Sie kennen das Haus als Stellvertretender Generaldirektor ja seit über zehn Jahren. War es der natürliche nächste Schritt?
Dr. Achim Bonte: Sagen wir, es war eine von mehreren möglichen Optionen. An Ende haben mich mehrere Gründe in Dresden gehalten: das außergewöhnliche Potenzial und der besonders breite Auftrag der SLUB, mein hervorragendes Team sowie die Schönheit und Lebendigkeit dieser Stadt. Mit Dresden war ich schlicht noch nicht fertig.
Top: Wie lautet Ihr Fazit nach dem ersten halben Jahr? Gibt es konkrete Ziele, die Sie bereits erreicht haben?
Dr. Achim Bonte: Zu meinen Zielen zählt, die Internationalisierung voranzutreiben, die SLUB als offenen Veranstaltungsort für vielfältige Menschen und Ideen auszubauen und die Digitalisierung unserer Inhalte und Dienste engagiert fortzusetzen. In allen Feldern gibt es konkrete Fortschritte, zum Beispiel unseren Kooperationsvertrag mit der Russischen Staatsbibliothek über kriegsbedingt verlagerte Werke, die Gründung eines neuen Fachinformationsdienstes für den Bereich Mobilität und Verkehr oder die Fortschritte im Sächsischen Landesdigitalisierungsprogramm, mit dem wir allein im letzten Jahr drei Millionen Seiten online verfügbar gemacht haben.
Top: Wie würden Sie den Status der SLUB Dresden im Vergleich zu anderen deutschen Universitätsbibliotheken beschreiben? Welche Rolle spielt der Dialog zu anderen Häusern?
Dr. Achim Bonte: Die SLUB ist Bibliothek für die TU Dresden, Landes- und Leitbibliothek für Sachsen und ein überregionales Service- und Koordinierungszentrum für die deutsche und europäische Informationsinfrastruktur. Hinsichtlich unserer Ausstattung und Betriebsergebnisse rangieren wir regelmäßig unter den ersten fünf Plätzen in der deutschen Bibliotheks-Bundesliga. Zugleich ist klar, dass selbst ein solch großes Haus wie die SLUB mit vielen Partnern zusammenwirken muss, um in der digitalen Wissensgesellschaft weiter Erfolg zu haben. Entsprechend suchen wir die synergetische Zusammenarbeit zum Beispiel mit den Bibliotheken innerhalb der Gruppe der bedeutendsten Technischen Universitätsbibliotheken (TU9), innerhalb starker Softwareentwicklungsgemeinschaften oder mit leistungsfähigen Häusern im europäischen Ausland.
Top: Das wissenschaftliche Bibliothekswesen muss sich an die Herausforderung einer digitalisierten Forschung und Lehre anpassen. Die SLUB bekennt sich deshalb auch ausdrücklich zum Konzept der Open Science. Ihnen liegt das Thema als Gründungsvorsitzender der Digitalisierungssoftware Kitodo sicher sehr am Herzen. Wie hält die SLUB bei diesen Prozessen Schritt und welche Projekte stehen in nächster Zeit an?
Dr. Achim Bonte: Openness ist für uns ein zentraler Wert, da uns derlei Attribute klar von Angeboten der Internet-Industrie unterscheiden. Die SLUB sollte als öffentliche Einrichtung möglichst niedrigschwellig, chancengerecht und nichtkommerziell sein, keine Daten vermarkten, auf die Seriosität der vermittelten Informationen achten und auch gesellschaftspolitisch wirken, indem sie in ihrer ganzen Haltung und in konkreten Veranstaltungen sichtbar für Pluralismus und offenen Meinungsaustausch eintritt. Den offenen Zugang zu Information und Wissen unterstützen wir in enger Zusammenarbeit mit der TU Dresden zum Beispiel durch die kontinuierliche Weiterentwicklung von Publikationswerkzeugen, einen Fonds zur Finanzierung offener, qualitätsgesicherter wissenschaftlicher Publikationen und vielfältige Informations- und Beratungsbausteine zur weiteren Steigerung des Anteils von Open Access.
Top: Gibt es vorbildhafte Entwicklungen bei vergleichbaren Einrichtungen, die Sie zur Orientierung zu Rate ziehen?
Dr. Achim Bonte: Wir sehen uns laufend danach um, welche Ideen für unser Haus noch nützlich sein könnten und wie wir unsere Angebote weiter qualifizieren und Kundennutzen mehren. So hatten wir etwa kürzlich Kollegen aus der ETH Zürich bei uns, um unter anderem deren Crowdsourcing-Methode bei der Erschließung des ETH-Bildarchivs näher kennenzulernen. Mit der Bilddatenbank der „Deutschen Fotothek“ unterhalten auch wir ein großes digitales Archiv mit über zwei Millionen grafischen Objekten aus 91 Institutionen.
Top: Im Dezember wurde bekannt, dass die SLUB Bücherschätze, die in Folge des Zweiten Weltkrieges als Beutegut nach Russland gelangten, gemeinsam mit der Russischen Staatsbibliothek digital für deutsche Nutzer zugänglich macht. Die digitalen Sammlungen der SLUB werden immer größer. Welche Projekte sind diesbezüglich für die Zukunft geplant?
Dr. Achim Bonte: Ich habe den Eindruck, dass wir schrittweise zunehmend stärker in die nächste Phase der Digitalisierung eintreten. Nachdem wir anfangs hauptsächlich analoge wissenschaftliche Inhalte in digitale überführt haben – und die SLUB ist hier inzwischen einer der größten Inhaltsproduzenten für die Deutsche und Europäische Digitale Bibliothek – geht es nun verstärkt um das Thema „Rechnen auf Daten“. Das bedeutet zum Beispiel Text- und Bildmustererkennung, intelligente Visualisierung sehr großer Treffermengen und komplexer digitaler Objekte oder die Erforschung semantischer Beziehungen in umfangreichen Textkorpora.
Top: Ihrer Überzeugung nach sollte die SLUB nicht nur ein kundenorientierter, sondern auch ein partizipativer Raum sein. Was meinen Sie damit?
Dr. Achim Bonte: Traditionell ist Bibliothek vornehmlich ein Ort für die Menschen. Das bedeutet, man geht in die Bibliothek und holt dort Medien und Dienstleistungen ab. Mit anderen Bibliotheksexperten bin ich der Meinung, dass wir Bibliothek noch stärker als Ort der Menschen entwickeln sollten. Demnach sollten Menschen Information und Wissen nicht nur abholen, sondern auch bringen können, da der Ausschnitt dessen, was eine Bibliothek selbst wissen kann und tatsächlich auch weiß, künftig eher kleiner als größer werden wird. Außerhalb der Gruppe der Bibliothekare und der Summe der Bibliotheksbestände gibt es folglich noch viel mehr, was für eine Bibliothek relevant ist und andere bereichern kann. Entsprechend versuchen wir, durch Anwerbung von ehrenamtlichem Engagement, Zusammenarbeit mit Bürgerwissenschaftlern, offene Veranstaltungsformate und vieles mehr die SLUB zu einem möglichst lebendigen, professionell organisierten Wissensmarktplatz zu machen, auf dem alle Beteiligten wechselseitig voneinander profitieren.
Top: Welche Sanierungsmaßnahmen stehen in Zukunft an?
Dr. Achim Bonte: Seit Öffnung vor 15 Jahren haben die Zentralbibliothek rund 30 Millionen Menschen besucht. Das macht sich inzwischen an manchen Stellen des Hauses deutlich bemerkbar. Daneben gilt es, bestimmte technische Anlagen zu erneuern und auch neue räumliche Anforderungen zu bedienen, die sich aus der fortschreitenden Digitalisierung und dem Wandel des Bibliotheksbegriffs ergeben. Ich hoffe sehr, dass wir unsere Sanierungs- und Umbauvorschläge möglichst bald werden angehen können. Eine gute Bibliothek braucht weiterhin beides: attraktive zeit- und ortsunabhängige digitale Dienste, aber auch Gebäude und Räume mit hoher Aufenthalts- und Servicequalität, in denen sich Menschen leicht begegnen und gemeinsam lernen und forschen können.